Karl Heinz Witte:
Meister des Lehrgesprächs

Ein bisher nicht identifizierter Augusti­ner-Eremit aus der 1. Hälfte des 14. Jh.s.

Gratia-Dei-Traktat

Audi-Fila-Dialog:
Des menschen val und erlösunge

In-principio-Dialog

Augustinerschule des 14. Jh

Meister-Jünger-Dialog

Wer ist der Meister des Lehrgesprächs


Text aus: Verfasserlexikon, 2. Aufl. Bd. 6, S. 331-340

1. Am Charakter seiner Werke erkennt man einen oberrheinischen Theologen, der Hochschulqualifikation besessen ha­ben muß. Drei stilistisch und theologisch anspruchsvolle Meister-Jünger-Dialoge in dt. Sprache können ihm mit Sicherheit zu­geschrieben werden: 1. der 'Gratia-Dei­Traktat' ('GDT'), eine Gnadenlehre, 2. 'Des menschen adel, val und erlösunge' ('DMA', nach Vorschlag Ruhs besser 'Audi-filia-Dialog' genannt), eine Schöpfungs- und Erlö­sungslehre und 3. der 'In-principio-Dia­log' ('IPD'), eine Seins- und Gotteslehre. Seine Schaffenszeit dürfte zwischen 1329 und 1357 anzusetzen sein; denn einerseits bezieht er sich abwehrend auf Lehren Meister à Eckharts; andererseits wird in einem Berliner Traktat 'Wie got eines lu­tern herzen eigen wil syn' (mgq 164, f.242"; à Straßburger Augustinereremit; vgl. RUH, Bonav. dt., S. 111) magister à Thomas von Straßburg O. E. S. A. (gest. 1357) als (wohl noch lebender) general myns ordens zitiert. Dieser Traktat ist vom Meister des Lehrgesprächs abhängig. Auch à Marquard von Lindau (gest. 1392) hat mindestens den 'IPD' gekannt, ein weiterer Terminus ante quem für des­sen Entstehung. Freilich ist die Münchner Hs. des 'IPD' schon i. J. 1383 geschrieben.

2. Überlieferung und Ausgaben. Alle Werke sind jeweils nur aus einer Hs. bekannt: 'GDT': Zü­rich, Zentralbibl., cod. C 127, S. 67-125; hg. v. G. Steer, Scholastische Gnadenlehre in mhd. Sprache (MTU 14), 1966, S. 41-80. - 'DMA': Colmar, StB, CPC 1945, datiert 1442 (P. BOLCHERT, Catalogue de la Bibliotheque du Consistoire, Straßburg 1955, S. 25 f., Nr. 36). - 'IPD': München, cgm 129, datiert 1383; hg. v. J. G. V. Engelhardt, Auslegung d. spe­culativen Theiles d. Evangeliums Johannis durch ei­nen dt. mystischen Theologen d. 14. Jh.s. (Privat­druck) Neustadt a.d.A. 1839, 47 S.; Vom inwendi­gen Reichtum. Texte unbekannter Mystiker aus dem Kreise Meister Eckharts. Auswahl u. Übersetzung ins Nhd. v. A. Rozumek, 1937, S. 117-144; in Vorbe­reitung: Ausgabe mit Kommentar von K. H. WITTE [jetzt. Witte, K. H. (1989): Der 'Meister des Lehrgesprächs' und sein 'In-principio-Dialog': ein deutschsprachiger Theologe der Augustinerschule des 14. Jahrhunderts aus dem Kreise deutscher Mystik und Scholastik: Edition und Kommentar. München u. Zürich: Artemis.

3. Der 'Gratia-Dei-Traktat' ('GDT') ist das kürzeste und formal schlichteste der drei Werke. Gleich zu Anfang bei der Unterscheidung von zuvorkommender, mitwirkender und vollbringender Gnade wird hervorgehoben, daß der Mensch aus sich, ohne die Gnade, nichts Gutes tun kann. Gnäd ist ain bild der warheit und ain jnsigel der gerechtikait, in der die sele enpfachet g6tlicbe gelicbnüst und mit got verainot wirt (Z. 52f.). In dieser an à Anselm von Canterbury orientierten Definition klingen zwei Kerngedanken der Theologie des Meisters an: die Grün­dung der Gnadenlehre und im weiteren der Lehre vom Menschen auf die augusti­nische Ideenlehre und deren Ausrichtung auf eine Willens-'Psycho-Theologie', bei­de verankert im Begriff der gerechtikait.

Inhalt: Ohne die Gnade als mittel kann die Seele mit Gott nicht vereinigt werden; denn sie ist der ge­rechte ker zü got, d. h. sie stiftet die rechte Ordnung der Seele und ist deren Licht und Leben. Am besten läßt sich Gnade vergleichen mit kunst, d.h. einem Sich-Verstehen-auf-etwas (Z. 216ff.). Wie man die kunst, Deutsch zu lesen, selbst nicht empfindet, son­dern nur das Tun, so gibt es auch kein Bewußtsein von der Gnade selbst als der bewegenden Kraft, die in der Liebe des Menschen zur Wahrheit und in de­ren Werken wirkt. Gottes Wille gebirt ein gelichnüst seines eignen Willens in der Seele; das ist die Gnade (Z. 419). Der Wille hat einen dreifaltigen Aufbau: Die begirde des Willens macht dessen kraft schwan­ger wie der Vater die Mutter, und sie gebiert das werk des Willens als ihr Kind (Z. 430ff.). Es sind zu unterscheiden die begirde der gerechtikait und die begirde der salikait (Z. 459ff.). Nur die erste, als die Kraft der rechten, d.h. urbildlichen, Ordnung ist Gnade. Die zweite, die sich ins Unmäßige steigern und auf Irrwegen streben kann, ist eine natürliche Kraft, eine Neigung, sich selbst zu lieben, die die eigene Lust, Ehre und eigenes Gut sucht, wenn sie ohne den Anstoß der Gnade bleibt. Daraus folgt, daß der Mensch zwar von Natur Wahrheit und Lie­be zu kennen vermag; aber er kann ohne Gnade die Wahrheit und Rechtheit, und d.h. letztlich Gott, nicht mehr lieben als sich selbst und seine Ehre. So liegt allen guten Werken, die nicht vom inneren Wir­ken der Gnade bewegt sind, ein Streben nach Lob und Ehre zugrunde. - Der Text klingt aus mit einem Blick auf die Erlösungslehre: Da Adams Urstandsge­rechtigkeit wegen seiner Sünde nicht zum Quell und Urbild aller menschlichen Rechtheit geworden ist, mußte dieses Ziel durch Geburt und Werk Jesu Chri­sti vollendet werden.

4. 'Des menschen adel, val und er­lösunge' ('DMA'). Audi filia et vide et inclina aurem tuam (...) Der gottes heilige geist der rü f fet siner gemynten tohter durch des propheten mund (...) Sich an disen worten, daz einem flyssigen men­schen drier dinge not ist. - Wie der 'GDT' lehnt sich auch dieses Werk eng an An­selm von Canterbury an, ohne die Eigen­ständigkeit zu verlieren. Das erste Buch enthält die Lehre vom Schöpfungsadel und Sündenfall des Menschen (7 Kapitel), das zweite, das den eigenen Namen 'Von der hymelschen Jherusalem' trägt, entfal­tet die Erlösungslehre (13 Kapitel).

Inhalt: Die Menschwerdung Gottes ist nicht nur eine Wiedergutmachung des Sündenfalls, sondern sollte eine vollständige, d.h. geistige und leibliche, Beseligung des Menschen ermöglichen. Sein geistiges Wesen und die darin liegende Ebenbildlichkeit mit Gott werden im Wirken der drei Seelenkräfte, Ge­dächtnis, Vernunft und Wille, gesehen, die ein Spie­gel der Dreifaltigkeit Gottes sind. Ausführlich wird eine Lehre von Wahrheit und Richtigkeit (gerebti­keit) der Zeichen, Worte, Gedanken, der natürlichen sowie der freien, willentlichen Werke entfaltet. Sie mündet in eine Besinnung darauf, wozu der Mensch geschaffen wurde, nämlich um durch alle seine Ver­nunftkräfte in die Wahrheit gezogen zu werden und darin ewig liebend zu bleiben. Dazu bedarf es der gerechten Liebe, der die Vernunft und die Wesens­kräfte des Menschen dienen sollen. Wie im 'GDT' ist hier zwischen Begierde der Seligkeit und der Recht­heit zu unterscheiden. Nur die letzte - allerdings in Freiheit - hätte die rechte, der Wahrheit der Schöp­fungsordnung entsprechende Beseligung gebracht. Dieser Grundsatz wird am Beispiel des Engelfalls und der Ursünde Adams und Evas ausgeführt. Breite Ab­handlungen über die Freiheit, das Wesen der Sünde als Mangel und über die Rechtheit des Willens, der von der Gnade angestoßen werden muß, damit der Mensch wahrhaft Gutes tun kann, führen zum Pro­blem der Erbsünde. Es wird nun gezeigt, wie in der bernden kraft Adams die ganze Menschheit der Na­tur nach eingeschlossen war und welches der Unter­schied von natürlicher und persönlicher Schuld, d.h. des Mangels an gerechtem Willen ist.

Das 2. Buch (ab f. 68") gründet die Notwendigkeit der Wiedergutmachung zunächst auf die Verletzung der Ehre, dann auf die Gerechtigkeit Gottes. Ihm die Schuld entgelten kann der Mensch nicht, da er ihm mehr geben müßte, als er hat. Aber er kann aus Dankbarkeit sich bereiten, daß er - als Geschenk der Gnade und aus Güte - von Gott mehr empfängt, denn ihm als Lohn zustünde. Gott kann aber dem Sünder auch nicht nur auf Grund des guten Willens die Schuld erlassen, sofern dieser sie nicht entgelten kann; denn gerade diesen guten Willen, d. h. die in­nere Ausrichtung auf die Wahrheit ohne alle Selbst­sucht, hat der sündige Mensch ja von Natur nicht. Es gibt keinerlei Verdienstlichkeit der Werke. Auch die Vorbereitung auf die Umkehr und Rechtfertigung ist Gnadengeschenk. Buße, Armut, Barmherzigkeit usw. sind lediglich Ausdruck der Dankbarkeit, durch die der Mensch sich der Gnade würdig er­weist. In der Frage, warum Gott manche Menschen zur Erlösung, andere zur Verdammnis bestimmt hat, herrscht Ratlosigkeit. Die strikte Prädestination wird festgehalten. Andererseits versichert der Mei­ster, daß alle, auch die Verdammten, hinreichende Gnade empfangen. Den Erwählten wird darüber hinaus aus freier Entscheidung Gottes die Reue und Heilsgnade geschenkt.

Gott und Mensch mußten eine Person bilden, um die Schuld des Menschen zu tilgen. Eine Person ist die Vereinigung zweier Naturen in einem vernünfti­gen Wesen. Diese personale Vereinigung gibt es nur im Gottmenschen Christus und im Menschen als der Vereinigung von Leib und Seele. Als Gottmensch war Christus nicht schuldig zu sterben. Indem er den Tod freiwillig erduldete, hat er für die Menschheit gesühnt und zugleich, da er mehr gab, als er schulde­te, darüber hinaus die Liebe vermehrt. Maria war durch zuvorkommende Gnade auf die Erlösung durch ihren Sohn hin von Erbsünde rein, gleichviel ob sie ohne Erbsünde empfangen wurde oder sehr bald, noch bevor sie sündigen konnte, im vorgreifen­den Glauben gereinigt wurde wie die gläubigen Pa­triarchen und Propheten.

5. 'In-principio-Dialog' ('IPD'). In principio erat verbum (...) O ewiges Wort der weisheit, gib mir von dir zu sprechen, daz der worhait niht vngezeme sei und der mynne sei geneme. - Eine hoch spekulati­ve Lehre von Gott als dem reinen Sein, dem Dreifaltigen und dem Ursprung der Schöpfungsideen.

Inhalt: Wenn man sagt: 'Himmel und Erde, dies und das ist', so findet sich in dem 'ist' nur eine Ver­schiedenheit, insofern es je einem verschiedenen Ge­schöpf zugeleit wird. Doch hot wesen in seiner lau­terkait kein teilunge nach keinen zuval nach keinen vnterscheit. Do von wilt du got sehen, so sich lauter wesen an teilunge, an zuval dez ald dez und an vnterscheit (10v). Aus diesem Prinzip wird die Unter­scheidung von Sein (wesen) und Wesenheit (nature) abgeleitet. Problematisch ist die Frage, inwiefern Gott als dieses reine Sein in jedes geschöpfliche Sein eingeht. Der Meister findet die problemgeschichtlich höchst interessante Lösung: Wie die Eins als Prinzip aller Zahlen vor allen Zahlen steht und verschieden ist von jeder Zahl, jedoch in alle Zahlen prinzipiie­rend eingeht (1 + 1 + 1...), so steht Gott zu seiner Schöpfung. Also ist in aller creatur ein wesen, in dem allez wesen stat und ist. Daz ist gemein aller creatur. Daneben ist aber jede Zahl eine Einheit als Zwei, Drei, Zehn, je nach ihrer Art und Größe, so auch daz anderr wesen, daz ist eigen sunderlicb iglicher crea­tur (24v).

Bei der Begründung der Dreifaltigkeit Gottes stützt sich der Meister auf einen Seitenzweig der Schultheologie, nämlich auf die Trinitätslehre Ri­chards von Sankt Viktor, der die Vielheit nicht wie üblich aus der Selbsterkenntnis, sondern aus der Lie­be ableitet. Gott als höchste Güte will sich verströ­men und sucht einen gleichwertigen Geliebten. Das kann aber nur der Sohn gleichen göttlichen Wesens sein. Diese gegenseitige Liebe braucht zur höchsten Erfüllung wieder einen Dritten, dem beide Lieben­den das Glück ihrer Liebe mitteilen können, den Heiligen Geist. Beachtenswert ist auch, daß als ge­schöpfliches Gleichnis für diese dreifaltige göttliche Liebe das Bild der gegenseitigen Liebe von Vater, Mutter und Kind angeführt wird, das in der Schul­theologie sonst grundsätzlich gemieden wird.

In der Frage, wie die Verschiedenheit und Viel­zahl der Geschöpfe aus dem einen göttlichen Wesen entspringen konnten, wird auf die platonisch-augu­stinische Ideenlehre zurückgegriffen. In Gottes Er­kenntnis ist von jedem individuellen Geschöpf eine eigene Idee gleichsam als Ausfaltung des unendli­chen Reichtums der schöpferischen Kraft Gottes. Um den Hervorgang dieser geschöpflichen Vielfalt zu erläutern, legt der Meister die Bilder des Spiegels und des Bachs aus. In einem Schlußkapitel wird die zuvor entfaltete Spekulation als Deutung des Prologs des Johannesevangeliums verstanden, freilich nicht von wort ze wort; wan vil in dem selben ewangelio ist, daz gemein ler angat und von allen wirt gespro­chen vil und oft. Ich wolt daz betuten, daz tief fe synne bat und nicht gemeincleichen gesprochen wirt (88v).

6. Augustinerschule. Das zuletzt an­geführte Zitat aus dem 'IPD' gilt auch für die anderen Texte des Meisters. Sie decken beinahe den ganzen Umfang der spe­kulativen Theologie ab. Zusammengefaßt ergeben sie fast eine kleine 'Summa' in Form von Meister-Jünger-Dialogen. Da­bei ist auf Grund der Hinweise auf Bücher weiterführenden Inhalts durchaus noch mit neuen Zuschreibungen zu rechnen. Schon allein diese thematische Ausrich­tung und der Umfang geben dem Autor einen bisher ungeahnten Rang. Darüber hinaus aber noch mehr der theologische Inhalt und die literarische Qualität. Bisher war nicht bekannt, daß auch die Augusti­ner-Theologen in solchem Umfang in die deutschsprachige theologische Diskussion eingegriffen haben, die sich um Meister Eckhart und die deutsche Mystik ansie­delte (s. ZUMKELLER, 1959, S. 257; s. a. -> Heinrich von Friemar d.Ä.). Daß es sich um einen Augustiner-Theologen han­delt, ergibt sich eindeutig aus 'DMA', und von dieser Position aus erklären sich auch einige anfängliche Ungereimtheiten der Zuordnung in den beiden anderen Dialo­gen. Der 'IPD' folgt zwar in manchen me­taphysischen Thesen der dominikanischen Meinung, vor allem bei der über Thomas von Aquin hinaus entwickelten Realdi­stinktion von esse und essentia. Im Exem­plarismus und in der Transzendentalienlehre steht er aber Bonaventura, allerdings auch Meister Eckhart nahe, die in diesen Lehren eine Verwandtschaft verbindet (s. K. Flasch, Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues, Leiden 1973, S. 149f.). Besonders kommt das zum Aus­druck, wenn das Sein Gottes in der Krea­tur verglichen wird mit dem Sein der Eins in allen Zahlen. Ferner sind die Lehre von der Vielheit der Formen (Leib und Seele) im Hinblick auf die hypostatische Union in Christus, der Vorrang des Willens bzw. der Liebe vor der Erkenntnis, die Illumi­nationslehre in der Erkenntnistheorie, die dem Emanationbegriff nahestehenden Vorstellungen (z. B. der rationes semina­les) charakteristisch für den Neo-Augu­stinismus (s. von Steenbergen, S. 436-441, 464-468): alles Lehrstücke, die in unseren Texten vertreten werden. Diese Position hatten die nominalistischen Fran­ziskaner des 14. Jh.s bereits aufgegeben; die Augustiner-Eremiten hingegen haben sie größtenteils bewahrt (s. Zumkeller, 1964, S. 178-216; 1973, S. 121-180). Steer, S. 19f., hatte den 'GDT' einem Dominikaner zugeschrieben. Doch er­weist sich im Lichte des 'DMA', daß der Meister in beiden Werken eine iustitia ori­ginalis für Adam annimmt, die noch vor dem eigentlich soteriologischen Gnaden­stand liegt, eine Lehre, die kennzeichnend für die Augustinerschule des 14. Jh.s ist (s. Köster, S. 69f.). Ferner ist der Cha­rakter der Gnade als Beweger des Willens im Unterschied zum babitus supernatura­lis (s. Auer, Bd. 1, S. 190) sowie die Leh­re, daß der Mensch von Natur zwar einige Wahrheit und ichbezogene Liebe kenne, nicht aber ohne Gnade die Wahrheit und Gott über alles setzen könne, augustini­sches Lehrgut (s. Köster, S. 73). Diese dogmatischen Positionen, die im 'GDT' nur angedeutet sind, werden in 'DMA' breit ausgeführt. Hinzu kommen als Kennzeichen des Augustiners noch die Notwendigkeit einer Menschwerdung Gottes, auch wenn es die Ursünde nicht gegeben hätte (bes. Thomas von Straß­burg; s. Zumkeller, 1973, S. 124), sowie eine wohlwollende Stellungnahme zur unbefleckten Empfängnis Marias (erst­mals ebenfalls Thomas von Straßburg; s. Zumkeller, 1964, S. 214).

Alle drei Werke beziehen sich dogma­tisch mäßigend, zwar durchaus in mysti­schem Geiste, aber mit alternativen theo­logischen Interpretationen auf Meister Eckharts Lehren. Einige Ausführungen sind geradezu als Antworten auf Eckhart zu verstehen, z. B. die Lehre von der Ein­heit des reinen Seins Gottes und des luter wesens im Geschöpf (der ganze 'IPD'); ferner die Deutung der Geburt des Wortes Gottes in der Seele ('DMA', 10va), der Notwendigkeit der Gnade zur Vereini­gung mit Gott ('GDT', Z. 110, 133), des ontologischen Bonums der Sünde ('DMA', 28vb), der mystischen Vereini­gung mit Gott durch die Liebe ('DMA', 99vb). Die strikte Prädestinationslehre, die radikale Ablehnung der verdienstlichen Werke, die uneingeschränkte Forderung der zuvorkommenden und mitwirkenden Gnade zeigen einen Augustiner (s. Zumkeller, 1973, S. 140ff.), der sogar schon auf die (vorreformatorische) Rechtferti­gungsproblematik seines etwa 200 Jahre jüngeren Ordensbruders Martin Luther vorzudeuten scheint. Solche Anklänge fin­den sich besonders in manchen existentiell bewegten Textpassagen des Schülers, der im Erschrecken darüber, nichts für sein Heil tun zu können, ausruft: Wüst ich nüt die gnade Jbesu Christi, ich möbte uon vorhten verzwifeln. Dauon wil ich von miner gerebtigkeit !ässen und wil fliehen in daz licht cristenliches glouben ('DMA', f. 77'b). Daß sich der Meister des besonde­ren theologischen Charakters seiner Lehre bewußt war, zeigt die mehrfache aus­drückliche Abgrenzung von der gemeynen lere und eine ausführliche Rechtfertigung am Schluß seines 'DMA': Wer ihn des Irr­tums bezichtigen wolle, sollte zuvor An­selms von Canterbury 'Cur Deus homo' und Augustins 'Von dem fryen willen' lesen.

7. Meister-Jünger-Dialog. Wie schon Steer, S. 178 ff., gezeigt hat, ist die Dialogform derjenigen des Anselm von Canterbury nachgebildet, übertrifft sie aber bei weitem an Lebendigkeit und per­sönlicher, anteilnehmender Beziehung der Gesprächspartner. Charakteristisch sind folgende Züge: der starke affektive Bezug zur Wahrheit - im übrigen auch kenn­zeichnend für die Auffassung der Augusti­ner von der Theologie als scientia affecti­va (s. Zumkeller, 1964, S. 186-195) - und die aktive Rolle des Schülers als Ver­körperung der Haltung fides quaerens in­tellectum sowie auch als Tröster für den Meister, der seine Unzulänglichkeit ange­sichts der Wahrheit immer wieder betont. Besonders der Schüler stimmt, wenn er zu einem neuen Verständnis der Wahrheit gefunden hat, kunstvolle, bilderreiche und sprachmächtige hymnische Meditationen an. Formprägend ist auch der aporetische Grundzug, mit dem oft die Unvereinbar­keit wesentlicher Theologumena heraus­gestellt und zum Anstoß für die gedankli­che Durchdringung der Probleme genom­men wird; ein Verfahren, das die Ver­trautheit des Autors mit der disputativen Form scholastischen Unterrichts spiegelt, die sich auch in dem präzisen, den Kern treffenden Bezug des Meisters auf ver­schiedene schulbildende Lehrmeinungen bewährt.

8. Eine unmittelbare Wirkung der Werke des Meisters ist erkennbar im In­halt und in der Dialogführung zweier Traktate eines anonymen Augustiner-Ere­miten (à Straßburger Augustinereremit), 'Ein geistlicher garte der tugenden' (Ber­lin, mgq 182, 1'-18"; à 'Garten der Tu­genden') und 'Wie got eines lutern herzen eigen wil syn' (Berlin, mgq 164, 239'-253"). Auch die Auslegung des Pro­logs des Johannesevangeliums von Mar­quard von Lindau (München, cgm 215, 1r- 67r) enthält so viele inhaltliche Paralle­len zum 'IPD', daß man annehmen darf, daß der Franziskaner das Werk des Augu­stiners gekannt hat. Weitere neue Aus­blicke auf eine eigenständige deutschspra­chige augustinische Tradition werden sich gewiß noch ergeben. Zum Beispiel ge­winnt die relativ breit überlieferte Schrift 'Vom à Grunde aller Bosheit' mit ihren radikal antipelagianischen Passagen neues Interesse. Zusammenfassend darf gesagt werden, daß die Veröffentlichung und Untersuchung der Werke des Dialogmei­sters inhaltlich und geistesgeschichtlich ein neues Licht auf die deutschsprachige mystisch-scholastische Literatur des 14. Jh.s werfen dürfte. Vielleicht kann sie neben der 'Theologia deutsch' des à Frankfurters weitere Pfeiler der oft ver­muteten Brücke von der deutschen Mystik zur Reformation ausgraben.

Literatur. Kurze Würdigungen des 'IPD': J. BACH, Meister Eckhart der Vater der dt. Specula­tion, Wien 1864, S. 65 Anm. 8, 184f.; A. DEMPF, Vorwort zu Vom inwendigen Reichtum. Texte unbe­kannter Mystiker aus dem Kreise Meister Eckharts, hg. v. A. ROZUMEK, 1937, S. 15f. - Zum 'GDT': G. STEER, 1966 (s.o. 2.), S. 19f., 139-194; K. RUH, Geistliche Prosa, in: W. ERZGRÄBER, Europäisches SpätMA (Neues Hdb. d. Lit.wissenschaft 8), 1978, S. 579. - Zur theologischen Position: J. AUER, Die Entwicklung der Gnadenlehre in der Hochschola­stik, 2 Bde (Freiburger Theologische Studien 62/64), 1940/51; A. ZUMKELLER, Die Lehrer d. geistlichen Lebens unter d. dt. Augustinern vom 13. Jh. bis zum Konzil von Trient, in: Sanctus Augustinus vitae spiri­tualis magister, Bd. 2, Rom 1959, S. 239-337; ders., Die Augustinerschule des MAs, Analecta Augusti­niana 27 (1964) 167-262; ders., Der Wiener Theo­logieprofessor Johannes von Retz O. S. A (t nach 1404) u. seine Lehre von Urstand, Erbsünde, Gnade und Verdienst (Augustiniana 21/22), Löwen 1973; F. v. STEENBERGEN, Die Philosophie im 13. Jh., 1977; H. KöSTER, Urstand, Fall u. Erbsünde in der Scholastik (Hdb. d. Dogmengeschichte, Bd. 2, Faszi­kel 3 b), 1979.

KARL HEINZ WITTE