Karl Heinz Witte

"Literarische Formen theologischer Spekulation in deutscher Sprache" (Zeitbezug: 2. Hälfte des 14. Jh.s, augustinisches Umfeld)

Ich behandele einen Satz von Texten, die nach dem Vorschlag von Kurt Ruh zur "mündig gewordenen spekulativen Scholastik in deutscher Sprache" gehören. Ich spreche lieber von "Theologie der Mystik". Dabei ist Mystik verstanden als Erfahrung Gottes oder Einheit mit Gott im irdischen Leben. Alle diese Texte sind nur spärlich überliefert und auch in der Forschung seit dem 19. Jahrhunderts kaum beachtet. Der Grund für die geringe Nachfrage nach diesen Texten ist m. E. für das Spätmittelalter wie auch für die Gegenwart derselbe: Damals wie heute bestand – außer in Fachkreisen ‑ wenig Interesse an hoch qualifiziertem theologischem Nachdenken, solange dies in den Sphären der Spekulation bleibt und solange es weder die konkrete religiöse Erfahrung (heute Selbsterfahrung) noch die seelsorgliche Praxis direkt anspricht. Der Zweig der "geistlichen Prosa", von dem ich rede, ist theologische Fachliteratur, die aus der scholastischen Spekulation, und zwar aus der magistralen theologischen Disputatio inspiriert ist.

Ich beziehe mich

1.     auf den 'Traktat von der Minne', das ist eine echte, nicht nur der Form nach adaptierte scholastische Quästio

2.     die theologischen Vorlesungen zur Gottes‑ und Seligkeitslehre im 'Vorsmak des êwigen lebennes'

3.     die drei Meister-Jünger-Dialoge des Meisters des Lehrgesprächs

4.     den in drei Fassungen überlieferten moraltheologischen Traktat 'Vom grunde aller bôsheit'

Im ersten Teil meiner Ausführungen werde ich entsprechend dem Titel "Literarische Formen theologischen Nachdenkens" die Intention bzw. den Charakter der Textsorten kennzeichnen.

Auch wenn die Überlieferung dieser Werke (abgesehen vom 'GdB') so spärlich ist, muss es einen Anlass für die Produktion dieser Texte gegeben haben. Da wir hierfür keine direkten Zeugnisse haben, sind wir auf textinterne Hinweise angewiesen. Aus ihnen leitet sich zunächst einmal eine kultur- und sozialgeschichtliche Erkenntnis ab. Diese Literatur kann nicht für Laien geschrieben sein, sie hat keinen pädagogischen, katechetischen, aszetischen oder erbaulichen Charakter. Es handelt sich um Fachliteratur für theologisch geschulte Rezipienten. Man darf wohl davon ausgehen, dass diese Latein lesen konnten. Trotzdem sind die Texte deutsch geschrieben.

Der 'Traktat von der Minne'

Der 'TvdM' ist ein theologisches Thesenwerk, der Form und dem Inhalt nach eine Quästio. Das erkennt man nicht nur an der Gliederung und den Überleitungen, sondern auch an den argumentativen Bezügen. Der Autor verweist auf die divergierenden Positionen der Meister, und zwar nicht nur rhetorisch, wie meistens Meister Eckhart in seinen deutschen Schriften, sondern indem er sie zu Argumentationschritten und Textabschnitten seines eigenen Diskurses nimmt. Das ist genau die Verfahrensweise der Quästio. Der 'TvdM' ist eine quaestio disputata in mhd Sprache. Es muss sich um die Niederschrift einer tatsächlich gehaltenen oder einer fiktiven Disputation handeln. Um den Inhalt dieses Diskurses angemessen zu verstehen, braucht es damals wie heute theologische Spezialkenntnisse. Nicht nur der Autor, sondern auch der angesprochene Leser oder Hörer muss über eine weit entwickelte theologische Bildung verfügen. Mit anderen Worten: es handelt sich um eine deutschsprachige Hochschulschrift aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.

'Vorsmak des êwigen lebennes'

Der 'Vorsmak' ist eine Vorlesungsreihe, die ebenfalls an eine Ordenshochschule gehören dürfte. Das wird wiederum durch Form und Inhalt bewährt, z. B. schon durch die Einleitung:

Darumbe ist kurzlich in disem buoch ze sagene

von dis wortes ewiger geburt [Hs. ewiges gebruch] vnd von der driualtikait,

ze mâle darnach, wie aellú ding wesen enpfangen het in disem wort.

Daranach von des wortes [wegen del.] zitlicher geburt vnd von den dingen die von Christo [108v] ze sagene sint,

ze júngst von saelikait, wor an der bestande vnd wer die sint die der gebruchen [Hs.  gebruchung] súlent.

Das ist alles kurtzlich ze sagend. Got sy min hilfe. Amen  (Berlin mgq 1132, f. 108r)

Das ist ein Konzept für den kompletten theologischen Studiengang. Die vier angekündigten Kapitel entsprechen exakt dem Aufbau und Inhalt der Sentenzenkommentare, die jeder Student der Universitäten hören musste und die jeder Bacchalaureus lesen musste, bevor er magister werden durfte.

Der Meister des Lehrgesprächs

Über die Dialogkunst des Meisters des Lehrgesprächs haben Herr Steer und ich schon einige grundsätzliche Ausführungen gemacht. Es sind m. E. die besten Dialoge in mhd Sprache. Auch in diesen Texten geht es um hoch differenzierte theologische Auseinandersetzungen, aber nicht scholastisch, auch nicht im engeren Sinne mystisch. Es geht um das Verstehen der Glaubensartikel, angefangen von der Seins- und Gotteslehre über die Lehre von der Schöpfung, dem Sündenfall, der Erlösung und Rechtfertigung bis zur Gnadenlehre, also wieder fast das volle Programm der theologischen Systematik. Aber hier handelt es sich nicht um theologische Didaktik, wenngleich die gestaltgebende Dialogsituation die Einführung eines Schülers in die höheren Studien der Theologie durch einen Meister fingiert. Der Titel Meister ist hier ernst zu nehmen. Er stellt sich unverkennbar als Fachmann dar, aber weniger als Lehrer oder als Seelsorger. Die formbestimmenden Sprechakte gruppieren sich nicht um Belehrung, nicht um Ermahnung oder um Anleitung. Vielmehr ist der performative Charakter leitend: es handelt sich um gemeinsame Spekulation.

Der Traktat ‚Vom grunde aller bôsheit

Es handelt sich um einen theologisch-phänomenologischen Traktat, der in drei Fassungen überliefert ist. Die älteste Schicht, in vier Handschriften überliefert, geht von einer streng augustinischen Sündenlehre aus. In den zwei Redaktionen kann man beobachten, wie der Text zu einer allgemeinen, eher naiven und stoffhuberischen Charakter- und Lasterlehre aufgeschwemmt wird.

 

Diese vorangegangenen Skizzen möchten andeuten, dass die Werke, die ich bearbeitet habe, einige interessante Forschungsaufgaben stellen, und darüber hinaus literatur- und sozialgschichtliche Fragen aufwerfen könnten.

Ich benenne fünf Themen der Forschung, die durch die beigezogenen Texte vorgestellt werden:

1.     die Deskription einer Gruppe von theologischen Textsorten, mit der Frage nach Intention und Adressaten

2.     Die Frage nach den literatursozilogischen Umständen und in diesem Bereich die Frage nach dem Verhältnis von lateinisch theologischen Ursprüngen und der deutschsprachigen Adaption

3.     Die Frage nach dem Einfluss der Augustinertheologie im Korpus des nacheckhartschen "mystischen" Schrifttums

4.     Die Erforschung der Lebensgeschichte und des Werkes des Magisters Johannes Hiltalingen von Basel

5.     Die spezifischen theologischen Grundannahmen, die durch die Texte im Umkreis des Meisters des Lehrgesprächs (bzw. Hiltalingens) vermittelt werden, insbesondere die Eigenlehren in der Lehre von der Rechtfertigung, der Gnade und der Liebe

 

Im folgenden zweiten Teil meines Referats will ich einen kurzen Einblick in einige dieser Probleme geben.

Johannes Hiltalingen von Basel

In meinem Aufsatz über den ‚Traktat von der Minne ...' (ZfdA, H. 4, 2002) habe ich die These aufgestellt, dass der Augustinermagister Johannes Hiltalingen von Basel der Autor des TvdM und der Werke des Meisters des Lehrgesprächs ist. Auch die anderen Werke zeigen deutlich augustinische Spuren.

Hiltalingens theologische Schriften sind nur in einer Münchner Handschrift überliefert. Teilüberlieferungen finden sich noch in Freiburg/Schweiz, in Toulouse, in Wien und in Basel. Sein Sentenzenkommentar ist von historischer und inhaltlicher Qualität. Er ist geistreich und bringt eigenwillige Thesen. Er hat wenig Nachfolger gefunden. Aber die mangelnde Überlieferung seiner Werke hatte politische Gründe: Er schloss sich im abendländischen Schisma der Avignoner Fraktion an und wurde von der römischen Kurie strafrechtlich verfolgt. Darin ist er mit Meister Eckhart verwandt, aber auch darin, dass er neben Meister Eckhart der einzige Deutsch schreibende Pariser Magister ist.

Darüber hinaus rückt Hiltalingen an die Seite Meister Eckharts, indem er, ausgehend von einem Gutachten des Avignoner Prozesses, Eckharts inkriminierte Thesen in einem orthodoxen und zugleich augustinischen Sinne kommentiert. Das tut er vor allem in zwei von seinen 10 quaestiones disputatae. Von diesem in der Forschung bisher unbekannten Sachverhalt ausgehend, liest sich der 'TvdM' als eine Fortschreibung und Radikalisierung seiner lateinisch veröffentlichten Disputationen. Gegen Meister Eckharts Grundthese: esse est deus, stellt er seine eigene These: die minn ist got. Wir haben in diesem Traktat also nicht nur einen irgendwie gelehrten scholastischen Spekulationstext vor uns, sondern eine provokative Programmschrift, die sowohl die potentiellen Gefolgsleute Meister Eckharts als auch den ganzen Mainstream der dominikanischen und franziskanischen Magister herausfordert.

Die Bedeutung dieser Lehren geht aber noch weiter: Die vom Meister des Lehrgesprächs entfalteten Thesen sind nicht nur eine Abkehr von der sententia communis (der gemeinen ler, wie der Meister des Lehrgesprächs des öfteren hervorhebt), sondern auch eine Besonderheit in der mittelalterlichen und der nachfolgenden theologisch-philosophischen Tradition. Diese setzen auf Erkenntnis und Sein des Seienden. Die Liebe spielt – außer bei einigen romantischen Philosophen – keine konstituierende Rolle.

Liebe oder Erkennen

Aber was ist der Sinn dieser Umlenkung vom Sein bzw. Erkennen auf die Liebe?

Der doktrinäre Hintergrund dieser Theorie ist der Augustinismus, der im 14. Jahrhundert im Orden der Augustinereremiten eine spezifische Ausprägung erfahren hatte. Die Meinungsführer dieser Richtung sind die Magister Thomas von Straßburg, Gregor von Rimini, Hugolin von Orvieto, Johannes Hiltalingen von Basel, Johannes Klenkok. Der allgemein bekannte Hintergrund ist der Anti-Pelagianismus des hl. Augustinus, die Lehre, dass der Mensch durch seine eigenen Kräfte vor Gott kein Heil erlangen kann. Diese Lehre Augustins wurde in der Hochmittelalter zwar formell beibehalten, aber in Folge der Rezeption des Aristoteles doch so weit aufgeweicht, dass den natürlichen Kräften der Erkenntnis und der Liebe doch zugetraut wurde, dass sie Wahrheit (in der Gotteserkenntnis) und sittliches Gutsein (auch die Liebe zu Gott und dem Nächsten) bewirken könnten. Die übernatürliche Gnade setze sich sozusagen wie ein goldenes Dachl auf das natürliche Haus auf und vollende die menschlichen Kräfte.

Entscheidend ist nun für die Konzeption Hiltalingens bzw. des Meisters des Lehrgesprächs folgende Lehre: die Fähigkeit zur Liebe  ist für ihn die conditio sine qua non der Wesenserfüllung des Menschseins, und die aktuierte Liebe ist der hinreichende Grund des vollendeten Menschseins. Die Liebe als theologische Tugend wird hier nicht, wie gewöhnlich als habitus infusus betrachtet, sondern als actus, als direkte Wirkung des Heiligen Geistes in jeder sittlichen Handlung. Diese Wirkung ist die Liebe, die (anders als bei Thomas von Aquin) mit der Gnade gleichgesetzt wird. Wo die Liebe fehlt, befindet sich der Mensch im Zustand des Mangels. Es fehlt dann die Kraft, die er seiner Bestimmung nach haben sollte. Das ist der Zustand der Erbschuld oder der Todsünde.

Vom Grunde aller Bosheit

Eine existentielle Auslegung dieses Seinszustandes findet sich im Traktat vom 'GaB' und beim MdL. Ich versuche, nicht nur die Kernaussagen zu referieren, sondern sie auch in einem aktuellen tiefenpsychologischen Verständnis auszulegen.

„Ein Grund ist in der Seele, der ist grundlos abgründig böse, und aller Bosheit Übel wird um seinetwillen vollbracht. Und niemand kann diesen Grund erkennen, dieweil er eins mit ihm ist und ihn in seinem Tun und Lassen verwirklicht und sich selber liebt und meint in Geist und Natur“[1].

Damit ist schon eingangs festgelegt, dass wir aus uns selbst nichts Gutes vollbringen können. „Aus uns selbst“, das ist hier zu verstehen als mit Hilfe unserer Ich-Kräfte. Das Ich dürfe vielmehr wie das Weizenkorn im Gleichnis nicht allein bleiben, sondern müsse sterben und verwandelt werden, um fruchtbar zu sein. Ferner hören wir aber, dass dieses Sich-Verlieren dem Ich nicht möglich ist, da es den Wurzelgrund, in dem es haftet, nicht kennt. Dieser Grund kann nicht Gegenstand der Erkenntnis werden, auch nicht der reflexiven Selbsterkenntnis. Dem Blick des Ichs tritt dieser Grund nicht entgegen, „dieweil“, d. h. insofern und solange das Tun und Lassen des Ichs das Ausagieren dieses Grundes selbst ist. So liegt der Grund gleichsam immer schon „hinter“ dem Auge; dieses blickt aus ihm heraus, wohin es auch blickt.

„Dieser falsche Grund will in allen seinen Dingen wohl getan haben; er weiß von keinem Bösen, das an ihm wäre“[2]. Dieser Mensch, der aus dem Grunde seines Ichs handelt, ist oft tatsächlich gut und liebevoll gegen Gott und die Mitmenschen, demütig, schuldbewusst, gewissenhaft in großen und kleinen Dingen. Aber er ist in Unkenntnis darüber, dass ihm der eigentliche gute Wille fehlt; denn er will alles nur um seiner selbst willen, aus Eigenliebe[3]. Das wesentliche Charakteristikum ist, dass er nicht anders kann, als mit seinem unbewussten Willen auf böse Weise zu wollen, selbst wenn er sich ein an sich gutes Ziel setzt. Mit anderen Worten: Er kann von Natur aus nicht wirklich das Gute wollen, und doch will er in seinem bewussten Willen und Vorstellen nichts als gut sein, und er hält sich im Innersten für gut.

 

 

Das geistesgeschichtlich Bedeutsame dieses Textes ,Vom Grunde aller Bosheit' liegt in seiner Lehre, dass die ethische Qualität des Wollens und Handelns kein Gegenstand des Selbsterkenntnis sein kann. Es wird hier deutlich gesagt, dass die Qualität des Bösen unbewusst ist, gleichgültig ob ein solcher Mensch Gutes oder Böses tut. Was dem Menschen fehlt ist die Liebe zu den Menschen und Dingen um ihrer selbst, und das heißt - in der Sprache des Mittelalters - die Liebe der Geschöpfe um Gottes willen. In einer den modernen Ohren angenehmeren Formulierung: Nur der von Liebe erfüllte Mensch kann aus Liebe wollen. Der springende Punkt ist, dass hier nicht nur von den offenkundigen intentionalen Akten gesprochen wird: handeln, wünschen, wollen. Es wird vielmehr dem konkreten Willen noch ein voraus liegendes Wollen unterstellt. Dem bewussten Willensakt gehen ein unbewusster Willensanstoß und eine ebenfalls unbewusste Willensrichtung voraus.[4] Und gerade an diesem Punkte kommt das Auszeichnende und leicht falsch zu Verstehende dieses Ansatzes zutage. Es geht nicht um den äußeren Anschein und nicht um die bewussten Motive, sondern um einen verborgenen, „unbewussten“ Grund, und der wird nicht vom Inhalt des Wollens und Handelns, sondern von dem innersten, verborgenen Ziel des Strebens bestimmt. Das Böse (in der Sprache des ,Grundes aller Bosheit') ist demnach nicht eine vermeidbare Fehlhaltung, sondern es ist im Wesen des Ichs begründet. Dieses kann gar nichts anderes als sich wollen, und indem es ist, will es seine Ehre, seinen Ruhm und sein Recht. Darum sind die „egoistischen“ Fehlhaltungen nicht nur Früchte eines bösen Willens, denn in seinen Intentionen will der Böse ja gut sein und dafür gehalten werden. Er will sich als Guten, indem er sich will. Es ist also hier nicht von diesem oder jenem Bösen die Rede, sondern von dem „Grunde aller Bosheit“, mit anderen Worten von dem „radikal Bösen“. Dies ist ein Begriff von Immanuel Kant[5], der die Analyse eines sozusagen unbewussten „Hanges“ zum Bösen philosophisch vorangetrieben hat, freilich nicht zur Freude der Weltkinder[6].

Liebe = Gnade = Gott

Die Heilung liegt in der Liebe, und sie vollzieht sich durch die Liebe. Aber, wie wir gehört haben, genügt es nicht, gut sein oder lieben zu wollen, wenn der voraus liegende unbewusste Anstoß fehlt und damit die Umkehr der Willensrichtung vom Eigensinn in die Liebe. Diese Umkehr aber vollzieht sich unbewusst. Die Theologen sagen, die Umkehr und die darin sich vollziehende Heilung geschähen gratis, d. h. „umsonst, ohne Verdienst, geschenkt“, und sie nannten diese Wirkkraft gratia, „Gnade“. Nur mit der Gnade können wir die Menschen und Gott um ihrer selbst willen lieben. Das ist die allgemeine Lehre der Theologen. Die Augustiner aber sagen: Wenn wir in dieser Weise wirklich lieben ist das die Gnade oder in diesem Ereignis der Liebe liebt Gott in und durch uns. Diese Liebe ist kein Beziehungsgefühl, sondern ein Sein und Wirken im Menschen, das dem Fühlen und Wollen voraus und zugrunde liegt. Der biblische Satz „Gott ist die Liebe“ (1 Joh. 4,16) wird so ausgelegt, „dass Gott selber die Liebe ist, mit der die vernünftige Kreatur liebt“[7], mit anderen Worten, dass die Liebe des Menschen eigentlich Gott selber ist, der untergründig, „unbewusst“ im Menschen wirkt. Die minne ist got.

Der Autor des Traktats ,Vom Grunde aller Bosheit' steht in derselben Denktradition wie der Meister des Lehrgesprächs. Im ‚Audi-filia-Dialog: Des menschen adel und erlösunge‘ kommt er auf das Wesen des Bösen bzw. der Sünde zu sprechen:

Die Sünde ist kein Ding, das ist. Nichts Seiendes kann nämlich auf Grund seiner Natur böse sein, sonst hätte Gott Böses geschaffen. Darum ist auch der Wille selbst, der Gott nicht gehorchen will, als Wille nichts Böses. „Denn der Wille, der sich Gott nicht unterordnen will, ist ebenso gut ein Werk und hat das Wesen eines Werkes, das von Gott kommt, wie der Wille, der Gott gehorsam ist“[8]. Vielmehr ist die Sünde nichts, das heißt aber nicht, dass nichts Sünde sei (wie in Abwehr der ketzerischen Freigeister versichert wird). Sie ist vielmehr ein Mangel, und zwar der Mangel einer Kraft, die dem Menschen seiner Wesensbestimmung nach nicht fehlen dürfte. Diese Kraft ist die Liebe. In der theologischen Sprache: Grund und Ziel der Schöpfung, insbesondere der Erschaffung des Menschen, ist die Liebe. „Die Liebe ist eine Geisteskraft, die den Geist zu dem formt, was der Geist liebt“[9]. Die Liebe ist demnach nicht nur, wie wir es zu sehen gewohnt sind, ein Gefühl und eine Beziehung, sondern eine Kraft, die den Geist in das Geliebte verwandelt: Was ich liebe, werde ich. Meine Liebe der Menschen um ihrer selbst willen würde mich in die Einheit mit der Menschheit hineinformen. Doch der reale Zustand der Menschheit ist nicht so, wie er sein sollte. Wenn ich vor allem mich selbst liebe, werde ich versuchen, alles andere mir anzuverwandeln oder anzueignen. Anders, wenn ich Gott oder den Mitmenschen um seiner selbst willen liebe, so werde ich in die Gemeinschaft mit ihnen verwandelt.

Die Position des Menschen, der „vom Grunde aller Bosheit“, modern müsste man sagen: vom Prinzip der autarken Selbstvervollkommnung und Selbstsicherung, beherrscht wird, weiß nicht, dass er „das Böse“ tut, obwohl er „das Gute“ will. Das Wissen um diesen Stand muss ihm von Gott offenbart werden, d. h. modern gesprochen, es muss dem Bewusstsein quasi von außen, aus dem Bereich der Unbewusstheit entgegentreten. Das geschieht durch Fehlleistungen, Symptome, durch einfallende Gedanken und Träume. Aber mehr noch: Die Heilung tritt vollends von außen ins Feld. Nur wenn der Mensch „in Beziehung tritt“, kann er gesund werden. Das aber heißt nicht, dass er, wie man heute gerne sagt, die „Beziehungen aufbaut“, sondern dass er sich dort ansprechen und umwandeln lässt, wo er in Beziehung steht. Die Liebe wird vom Anderen her erfahren. Sie ist ein Ereignisse der Ciszendenz.

 

Karl Heinz Witte

witte@khwitte.de

www.hiltalingen.de



[1] Handschrift Berlin, Staatsbibliothek, mgq 149, f. 72r.

[2] Beuron, Stiftsbibliothek, cod. 8° 42, f. 53ra.

[3] Beuron [Anm. 2], f. 53ra - 54vb; Berlin [Anm. 1] f. 74r: Ovch so man disem grunde ie noher abstirbet, so diser grunt ie noher vnd heimelicher daz sin kan gesuochen; wan wurt ime der in groben dingen benomen, so tuot er sich also supdilichen vnd cleinfuegelich dar, das der mensche went gar wol dran sin vnd went, er habe got gemint vnd gemeint in allen sinen dingen, vnd went, er sy sins selbes zuo grunde ussgegangen, der doch einen trit ime selber nie enkam.

[4] Meister des Lehrgesprächs, Audi-filia-Dialog: B. 2, K. 6: Nu merk ich wol, daz ich nút gedenken sol, das gueter wille dem súnder komme von keinen sinen werken, es sient gedencke, willen, wort oder werck; wän vor allen güten gedencken, willen, worten oder werken muoß der mönsch han einen guten willen (f. 54va) ... wie vngewaltig der súnder sin selbes ist, dz er kein güt werk mag geleisten, wenn er gütes willen n´t enhät, es sie dän, daz in das f´r götlicher minne mit gnäden wider guot mache (f. 54vb).

[5] Kant (1783, 1794/1971).

[6] Karl Jaspers (1951a, S. 90) schreibt: „Als 1793 Kants ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft’ erschien – diese Schrift, in welcher der bei ihm neue Begriff des radikal Bösen der Angelpunkt war -, schrieb Goethe an Herder die bekannten Worte, Kant habe seinen ‚philosophischen Mantel freventlich mit dem Schandfleck des radikal Bösen beschlabbert ...’. Es kann nicht verwundern, wenn aus derselben Gesinnung Schiller Kants Annahme eines Hanges zum radikal Bösen ‚empörend’ nannte”.

[7] Petrus Lombardus (1971, dist. 17); Wéber (1986).

[8] Colmar, Bibliothèque de la ville, Ms 1945, f. 43rb.

[9] ebd. 23vb.