Ich behandele einen Satz von Texten, die nach dem
Vorschlag von Kurt Ruh zur "mündig gewordenen spekulativen Scholastik in
deutscher Sprache" gehören. Ich spreche lieber von "Theologie der
Mystik". Dabei ist Mystik verstanden als Erfahrung Gottes oder Einheit mit
Gott im irdischen Leben. Alle diese Texte sind nur spärlich überliefert und
auch in der Forschung seit dem 19. Jahrhunderts kaum beachtet. Der Grund für
die geringe Nachfrage nach diesen Texten ist m. E. für das Spätmittelalter wie
auch für die Gegenwart derselbe: Damals wie heute bestand – außer in
Fachkreisen ‑ wenig Interesse an hoch qualifiziertem theologischem
Nachdenken, solange dies in den Sphären der Spekulation bleibt und solange es
weder die konkrete religiöse Erfahrung (heute Selbsterfahrung) noch die
seelsorgliche Praxis direkt anspricht. Der Zweig der "geistlichen
Prosa", von dem ich rede, ist theologische Fachliteratur, die aus der
scholastischen Spekulation, und zwar aus der magistralen
theologischen Disputatio inspiriert ist.
Ich beziehe mich
1.
auf den 'Traktat von der Minne', das ist eine echte,
nicht nur der Form nach adaptierte scholastische Quästio
2.
die theologischen Vorlesungen zur Gottes‑ und
Seligkeitslehre im 'Vorsmak des êwigen
lebennes'
3.
die drei Meister-Jünger-Dialoge des Meisters des
Lehrgesprächs
4.
den in drei Fassungen überlieferten moraltheologischen
Traktat 'Vom grunde aller bôsheit'
Im ersten Teil meiner Ausführungen werde ich entsprechend
dem Titel "Literarische Formen theologischen Nachdenkens" die
Intention bzw. den Charakter der Textsorten kennzeichnen.
Auch wenn die Überlieferung dieser Werke (abgesehen vom 'GdB') so spärlich ist, muss es einen Anlass für die
Produktion dieser Texte gegeben haben. Da wir hierfür keine direkten Zeugnisse
haben, sind wir auf textinterne Hinweise angewiesen. Aus ihnen leitet sich
zunächst einmal eine kultur- und sozialgeschichtliche Erkenntnis ab. Diese
Literatur kann nicht für Laien geschrieben sein, sie hat keinen pädagogischen, katechetischen, aszetischen oder
erbaulichen Charakter. Es handelt sich um Fachliteratur für theologisch
geschulte Rezipienten. Man darf wohl davon ausgehen, dass diese Latein lesen
konnten. Trotzdem sind die Texte deutsch geschrieben.
Der 'TvdM' ist ein theologisches
Thesenwerk, der Form und dem Inhalt nach eine Quästio.
Das erkennt man nicht nur an der Gliederung und den Überleitungen, sondern auch
an den argumentativen Bezügen. Der Autor verweist auf die divergierenden
Positionen der Meister, und zwar nicht nur rhetorisch, wie meistens Meister
Eckhart in seinen deutschen Schriften, sondern indem er sie zu Argumentationschritten und Textabschnitten seines eigenen
Diskurses nimmt. Das ist genau die Verfahrensweise der Quästio.
Der 'TvdM' ist eine quaestio
disputata in mhd
Sprache. Es muss sich um die Niederschrift einer tatsächlich gehaltenen oder
einer fiktiven Disputation handeln. Um den Inhalt dieses Diskurses angemessen
zu verstehen, braucht es damals wie heute theologische Spezialkenntnisse. Nicht
nur der Autor, sondern auch der angesprochene Leser oder Hörer muss über eine
weit entwickelte theologische Bildung verfügen. Mit anderen Worten: es handelt
sich um eine deutschsprachige Hochschulschrift aus der zweiten Hälfte des 14.
Jahrhunderts.
Der 'Vorsmak' ist eine
Vorlesungsreihe, die ebenfalls an eine Ordenshochschule gehören dürfte. Das
wird wiederum durch Form und Inhalt bewährt, z. B. schon durch die Einleitung:
Darumbe ist kurzlich in disem buoch ze sagene
von dis wortes
ewiger geburt [Hs. ewiges gebruch]
vnd von der driualtikait,
ze
mâle darnach, wie aellú
ding wesen enpfangen het in
disem wort.
Daranach
von des wortes [wegen del.] zitlicher geburt vnd von den dingen die von Christo [108v] ze sagene sint,
ze
júngst von saelikait,
wor an der bestande vnd wer die sint die der gebruchen [Hs. gebruchung] súlent.
Das ist alles kurtzlich ze sagend. Got sy min hilfe. Amen (Berlin mgq
1132, f. 108r)
Das ist ein Konzept für den kompletten theologischen
Studiengang. Die vier angekündigten Kapitel entsprechen exakt dem Aufbau und
Inhalt der Sentenzenkommentare, die jeder Student der
Universitäten hören musste und die jeder Bacchalaureus
lesen musste, bevor er magister werden
durfte.
Über die Dialogkunst des Meisters des Lehrgesprächs haben
Herr Steer und ich schon einige grundsätzliche
Ausführungen gemacht. Es sind m. E. die besten Dialoge in mhd
Sprache. Auch in diesen Texten geht es um hoch differenzierte theologische
Auseinandersetzungen, aber nicht scholastisch, auch nicht im engeren Sinne
mystisch. Es geht um das Verstehen der Glaubensartikel, angefangen von der
Seins- und Gotteslehre über die Lehre von der Schöpfung, dem Sündenfall, der
Erlösung und Rechtfertigung bis zur Gnadenlehre, also wieder fast das volle
Programm der theologischen Systematik. Aber hier handelt es sich nicht um
theologische Didaktik, wenngleich die gestaltgebende
Dialogsituation die Einführung eines Schülers in die höheren Studien der
Theologie durch einen Meister fingiert. Der Titel Meister ist hier ernst zu
nehmen. Er stellt sich unverkennbar als Fachmann dar, aber weniger als Lehrer
oder als Seelsorger. Die formbestimmenden Sprechakte
gruppieren sich nicht um Belehrung, nicht um Ermahnung oder um Anleitung.
Vielmehr ist der performative Charakter leitend: es handelt sich um gemeinsame
Spekulation.
Es handelt sich um einen theologisch-phänomenologischen
Traktat, der in drei Fassungen überliefert ist. Die älteste Schicht, in vier
Handschriften überliefert, geht von einer streng augustinischen
Sündenlehre aus. In den zwei Redaktionen kann man beobachten, wie der Text zu
einer allgemeinen, eher naiven und stoffhuberischen
Charakter- und Lasterlehre aufgeschwemmt wird.
Diese vorangegangenen Skizzen möchten andeuten, dass die
Werke, die ich bearbeitet habe, einige interessante Forschungsaufgaben stellen,
und darüber hinaus literatur- und sozialgschichtliche
Fragen aufwerfen könnten.
Ich benenne fünf Themen der Forschung, die durch die beigezogenen Texte vorgestellt werden:
1.
die Deskription einer Gruppe von theologischen
Textsorten, mit der Frage nach Intention und Adressaten
2.
Die Frage nach den literatursozilogischen Umständen und
in diesem Bereich die Frage nach dem Verhältnis von lateinisch theologischen
Ursprüngen und der deutschsprachigen Adaption
3.
Die Frage nach dem Einfluss der Augustinertheologie im
Korpus des nacheckhartschen "mystischen"
Schrifttums
4.
Die Erforschung der Lebensgeschichte und des Werkes des
Magisters Johannes Hiltalingen von Basel
5.
Die spezifischen theologischen Grundannahmen, die durch
die Texte im Umkreis des Meisters des Lehrgesprächs (bzw. Hiltalingens)
vermittelt werden, insbesondere die Eigenlehren in der Lehre von der
Rechtfertigung, der Gnade und der Liebe
Im folgenden zweiten Teil meines
Referats will ich einen kurzen Einblick in einige dieser Probleme geben.
In meinem Aufsatz über den ‚Traktat von der Minne ...' (ZfdA, H. 4, 2002) habe ich die These aufgestellt, dass der
Augustinermagister Johannes Hiltalingen von Basel der
Autor des TvdM und der Werke des Meisters des Lehrgesprächs
ist. Auch die anderen Werke zeigen deutlich augustinische
Spuren.
Hiltalingens theologische
Schriften sind nur in einer Münchner Handschrift überliefert.
Teilüberlieferungen finden sich noch in Freiburg/Schweiz, in Toulouse, in Wien
und in Basel. Sein Sentenzenkommentar ist von historischer
und inhaltlicher Qualität. Er ist geistreich und bringt eigenwillige Thesen. Er
hat wenig Nachfolger gefunden. Aber die mangelnde Überlieferung seiner Werke hatte
politische Gründe: Er schloss sich im abendländischen Schisma der Avignoner
Fraktion an und wurde von der römischen Kurie strafrechtlich verfolgt. Darin
ist er mit Meister Eckhart verwandt, aber auch darin, dass er neben Meister
Eckhart der einzige Deutsch schreibende Pariser Magister ist.
Darüber hinaus rückt Hiltalingen
an die Seite Meister Eckharts, indem er, ausgehend von einem Gutachten des Avignoner
Prozesses, Eckharts inkriminierte Thesen in einem orthodoxen und zugleich augustinischen Sinne kommentiert. Das tut er vor allem in
zwei von seinen 10 quaestiones disputatae. Von diesem in der Forschung bisher
unbekannten Sachverhalt ausgehend, liest sich der 'TvdM'
als eine Fortschreibung und Radikalisierung seiner lateinisch veröffentlichten
Disputationen. Gegen Meister Eckharts Grundthese: esse est
deus, stellt er seine eigene These: die minn ist got. Wir haben in
diesem Traktat also nicht nur einen irgendwie gelehrten scholastischen
Spekulationstext vor uns, sondern eine provokative Programmschrift, die sowohl
die potentiellen Gefolgsleute Meister Eckharts als auch den ganzen Mainstream der dominikanischen und franziskanischen
Magister herausfordert.
Die Bedeutung dieser Lehren geht aber noch weiter: Die vom
Meister des Lehrgesprächs entfalteten Thesen sind nicht nur eine Abkehr von der
sententia communis (der gemeinen ler, wie der Meister des Lehrgesprächs des öfteren hervorhebt), sondern auch eine Besonderheit
in der mittelalterlichen und der nachfolgenden theologisch-philosophischen
Tradition. Diese setzen auf Erkenntnis und Sein des Seienden. Die Liebe spielt
– außer bei einigen romantischen Philosophen – keine konstituierende Rolle.
Aber was ist der Sinn dieser Umlenkung vom Sein bzw.
Erkennen auf die Liebe?
Der doktrinäre Hintergrund dieser Theorie ist der Augustinismus, der im 14. Jahrhundert im Orden der
Augustinereremiten eine spezifische Ausprägung erfahren hatte. Die Meinungsführer
dieser Richtung sind die Magister Thomas von Straßburg, Gregor von Rimini, Hugolin von Orvieto, Johannes Hiltalingen
von Basel, Johannes Klenkok. Der allgemein bekannte
Hintergrund ist der Anti-Pelagianismus des hl.
Augustinus, die Lehre, dass der Mensch durch seine eigenen Kräfte vor Gott kein
Heil erlangen kann. Diese Lehre Augustins wurde in der Hochmittelalter
zwar formell beibehalten, aber in Folge der Rezeption des Aristoteles doch so
weit aufgeweicht, dass den natürlichen Kräften der Erkenntnis und der Liebe
doch zugetraut wurde, dass sie Wahrheit (in der Gotteserkenntnis) und
sittliches Gutsein (auch die Liebe zu Gott und dem Nächsten) bewirken könnten.
Die übernatürliche Gnade setze sich sozusagen wie ein goldenes Dachl auf das natürliche Haus auf und vollende die
menschlichen Kräfte.
Entscheidend ist nun für die Konzeption Hiltalingens bzw. des Meisters des Lehrgesprächs folgende
Lehre: die Fähigkeit zur Liebe ist für
ihn die conditio sine qua non der Wesenserfüllung des Menschseins, und die
aktuierte Liebe ist der hinreichende Grund des
vollendeten Menschseins. Die Liebe als theologische Tugend wird hier nicht, wie
gewöhnlich als habitus infusus
betrachtet, sondern als actus, als direkte
Wirkung des Heiligen Geistes in jeder sittlichen Handlung. Diese Wirkung ist
die Liebe, die (anders als bei Thomas von Aquin) mit der Gnade gleichgesetzt
wird. Wo die Liebe fehlt, befindet sich der Mensch im Zustand des Mangels. Es
fehlt dann die Kraft, die er seiner Bestimmung nach haben sollte. Das ist der
Zustand der Erbschuld oder der Todsünde.
Eine existentielle Auslegung dieses Seinszustandes findet
sich im Traktat vom 'GaB' und beim MdL. Ich versuche,
nicht nur die Kernaussagen zu referieren, sondern sie auch in einem aktuellen
tiefenpsychologischen Verständnis auszulegen.
„Ein Grund ist in der Seele, der
ist grundlos abgründig böse, und aller Bosheit Übel wird um seinetwillen
vollbracht. Und niemand kann diesen Grund erkennen, dieweil er eins mit ihm ist
und ihn in seinem Tun und Lassen verwirklicht und sich selber liebt und meint
in Geist und Natur“[1].
Damit ist schon eingangs festgelegt, dass wir aus uns
selbst nichts Gutes vollbringen können. „Aus uns selbst“, das ist hier zu
verstehen als mit Hilfe unserer Ich-Kräfte. Das Ich dürfe vielmehr wie das
Weizenkorn im Gleichnis nicht allein bleiben, sondern müsse sterben und
verwandelt werden, um fruchtbar zu sein. Ferner hören wir aber, dass dieses Sich-Verlieren dem Ich nicht möglich ist, da es den
Wurzelgrund, in dem es haftet, nicht kennt. Dieser Grund kann nicht Gegenstand
der Erkenntnis werden, auch nicht der reflexiven Selbsterkenntnis. Dem Blick
des Ichs tritt dieser Grund nicht entgegen, „dieweil“, d. h. insofern und
solange das Tun und Lassen des Ichs das Ausagieren dieses Grundes selbst ist.
So liegt der Grund gleichsam immer schon „hinter“ dem Auge; dieses blickt aus
ihm heraus, wohin es auch blickt.
„Dieser falsche Grund will in allen seinen Dingen wohl getan
haben; er weiß von keinem Bösen, das an ihm wäre“[2].
Dieser Mensch, der aus dem Grunde seines Ichs handelt, ist oft tatsächlich gut
und liebevoll gegen Gott und die Mitmenschen, demütig, schuldbewusst, gewissenhaft
in großen und kleinen Dingen. Aber er ist in Unkenntnis darüber, dass ihm der
eigentliche gute Wille fehlt; denn er will alles nur um seiner selbst willen,
aus Eigenliebe[3]. Das wesentliche
Charakteristikum ist, dass er nicht anders kann, als
mit seinem unbewussten Willen auf böse Weise zu wollen, selbst wenn er sich ein
an sich gutes Ziel setzt. Mit anderen Worten: Er kann von Natur aus nicht
wirklich das Gute wollen, und doch will er in seinem bewussten Willen und
Vorstellen nichts als gut sein, und er hält sich im Innersten für gut.
Das geistesgeschichtlich Bedeutsame dieses Textes ,Vom Grunde aller Bosheit' liegt in seiner Lehre,
dass die ethische Qualität des Wollens und Handelns kein Gegenstand des Selbsterkenntnis
sein kann. Es wird hier deutlich gesagt, dass die Qualität des Bösen unbewusst
ist, gleichgültig ob ein solcher Mensch Gutes oder Böses tut. Was dem Menschen
fehlt ist die Liebe zu den Menschen und Dingen um ihrer selbst, und das heißt -
in der Sprache des Mittelalters - die Liebe der Geschöpfe um Gottes willen. In
einer den modernen Ohren angenehmeren Formulierung: Nur der von Liebe erfüllte
Mensch kann aus Liebe wollen. Der springende Punkt ist, dass hier nicht nur von
den offenkundigen intentionalen Akten gesprochen wird: handeln, wünschen,
wollen. Es wird vielmehr dem konkreten Willen noch ein voraus liegendes Wollen
unterstellt. Dem bewussten Willensakt gehen ein unbewusster Willensanstoß und
eine ebenfalls unbewusste Willensrichtung voraus.[4] Und
gerade an diesem Punkte kommt das Auszeichnende und leicht falsch zu
Verstehende dieses Ansatzes zutage. Es geht nicht um den äußeren Anschein und
nicht um die bewussten Motive, sondern um einen verborgenen, „unbewussten“
Grund, und der wird nicht vom Inhalt des Wollens und Handelns, sondern von dem
innersten, verborgenen Ziel des Strebens bestimmt. Das Böse (in der Sprache des ,Grundes aller Bosheit') ist demnach nicht eine
vermeidbare Fehlhaltung, sondern es ist im Wesen des Ichs begründet. Dieses
kann gar nichts anderes als sich wollen, und indem es ist, will es seine Ehre,
seinen Ruhm und sein Recht. Darum sind die „egoistischen“ Fehlhaltungen nicht
nur Früchte eines bösen Willens, denn in seinen Intentionen will der Böse ja
gut sein und dafür gehalten werden. Er will sich als Guten, indem er sich will.
Es ist also hier nicht von diesem oder jenem Bösen die Rede, sondern von dem „Grunde
aller Bosheit“, mit anderen Worten von dem „radikal Bösen“. Dies ist ein
Begriff von Immanuel Kant[5], der
die Analyse eines sozusagen unbewussten „Hanges“ zum Bösen philosophisch
vorangetrieben hat, freilich nicht zur Freude der Weltkinder[6].
Die Heilung liegt in der Liebe, und sie vollzieht sich
durch die Liebe. Aber, wie wir gehört haben, genügt es nicht, gut sein oder
lieben zu wollen, wenn der voraus liegende unbewusste Anstoß fehlt und damit
die Umkehr der Willensrichtung vom Eigensinn in die Liebe. Diese Umkehr aber
vollzieht sich unbewusst. Die Theologen sagen, die Umkehr und die darin sich
vollziehende Heilung geschähen gratis, d. h. „umsonst, ohne Verdienst,
geschenkt“, und sie nannten diese Wirkkraft gratia,
„Gnade“. Nur mit der Gnade können wir die Menschen und Gott um ihrer
selbst willen lieben. Das ist die allgemeine Lehre der Theologen. Die
Augustiner aber sagen: Wenn wir in dieser Weise wirklich lieben ist das
die Gnade oder in diesem Ereignis der Liebe liebt Gott in und durch uns. Diese Liebe
ist kein Beziehungsgefühl, sondern ein Sein und Wirken im Menschen, das dem
Fühlen und Wollen voraus und zugrunde liegt. Der biblische Satz „Gott ist die
Liebe“ (1 Joh. 4,16) wird so ausgelegt, „dass Gott
selber die Liebe ist, mit der die vernünftige Kreatur liebt“[7], mit anderen Worten, dass die Liebe
des Menschen eigentlich Gott selber ist, der untergründig, „unbewusst“ im
Menschen wirkt. Die minne ist got.
Der Autor des Traktats ,Vom
Grunde aller Bosheit' steht in derselben Denktradition wie der Meister des Lehrgesprächs.
Im ‚Audi-filia-Dialog: Des menschen adel und erlösunge‘ kommt er auf das Wesen des Bösen bzw. der
Sünde zu sprechen:
Die Sünde ist kein Ding, das ist. Nichts Seiendes kann
nämlich auf Grund seiner Natur böse sein, sonst hätte Gott Böses geschaffen.
Darum ist auch der Wille selbst, der Gott nicht gehorchen will, als Wille
nichts Böses. „Denn der Wille, der sich Gott nicht unterordnen will, ist ebenso
gut ein Werk und hat das Wesen eines Werkes, das von Gott kommt, wie der Wille,
der Gott gehorsam ist“[8].
Vielmehr ist die Sünde nichts, das heißt aber nicht, dass nichts Sünde sei (wie
in Abwehr der ketzerischen Freigeister versichert wird). Sie ist vielmehr ein
Mangel, und zwar der Mangel einer Kraft, die dem Menschen seiner
Wesensbestimmung nach nicht fehlen dürfte. Diese Kraft ist die Liebe. In der
theologischen Sprache: Grund und Ziel der Schöpfung, insbesondere der
Erschaffung des Menschen, ist die Liebe. „Die Liebe ist eine Geisteskraft, die
den Geist zu dem formt, was der Geist liebt“[9]. Die
Liebe ist demnach nicht nur, wie wir es zu sehen gewohnt sind, ein Gefühl und
eine Beziehung, sondern eine Kraft, die den Geist in das Geliebte verwandelt:
Was ich liebe, werde ich. Meine Liebe der Menschen um ihrer selbst willen würde
mich in die Einheit mit der Menschheit hineinformen. Doch der reale Zustand der
Menschheit ist nicht so, wie er sein sollte. Wenn ich vor allem mich selbst
liebe, werde ich versuchen, alles andere mir anzuverwandeln oder anzueignen.
Anders, wenn ich Gott oder den Mitmenschen um seiner selbst willen liebe, so
werde ich in die Gemeinschaft mit ihnen verwandelt.
Die Position des Menschen, der „vom Grunde aller Bosheit“,
modern müsste man sagen: vom Prinzip der autarken Selbstvervollkommnung und
Selbstsicherung, beherrscht wird, weiß nicht, dass er „das Böse“ tut, obwohl er
„das Gute“ will. Das Wissen um diesen Stand muss ihm von Gott offenbart werden,
d. h. modern gesprochen, es muss dem Bewusstsein quasi von außen, aus dem
Bereich der Unbewusstheit entgegentreten. Das geschieht durch Fehlleistungen,
Symptome, durch einfallende Gedanken und Träume. Aber mehr noch: Die Heilung
tritt vollends von außen ins Feld. Nur wenn der Mensch „in Beziehung tritt“,
kann er gesund werden. Das aber heißt nicht, dass er, wie man heute gerne sagt,
die „Beziehungen aufbaut“, sondern dass er sich dort ansprechen und umwandeln
lässt, wo er in Beziehung steht. Die Liebe wird vom Anderen her erfahren. Sie ist
ein Ereignisse der Ciszendenz.
Karl Heinz Witte
www.hiltalingen.de
[1] Handschrift Berlin,
Staatsbibliothek, mgq 149, f. 72r.
[2] Beuron, Stiftsbibliothek, cod. 8° 42, f. 53ra.
[3] Beuron [Anm. 2], f. 53ra -
54vb; Berlin [Anm. 1] f. 74r: Ovch so man disem
grunde ie noher abstirbet, so diser grunt ie
noher vnd heimelicher daz sin kan gesuochen;
wan wurt ime der in groben dingen benomen,
so tuot er sich also supdilichen
vnd cleinfuegelich
dar, das der mensche went
gar wol dran sin vnd went, er habe got gemint vnd
gemeint in allen sinen dingen, vnd
went, er sy sins selbes zuo grunde ussgegangen, der doch
einen trit vß ime selber nie enkam.
[4] Meister des Lehrgesprächs,
Audi-filia-Dialog: B. 2, K. 6: Nu merk ich wol, daz ich nút
gedenken sol, das gueter
wille dem súnder komme von
keinen sinen werken, es sient
gedencke, willen, wort oder
werck; wän vor allen güten gedencken, willen, worten oder werken muoß
der mönsch han einen guten
willen (f. 54va) ... wie vngewaltig der súnder sin selbes ist, dz er kein güt werk mag geleisten, wenn er gütes willen n´t enhät, es sie dän, daz in das f´r götlicher minne
mit gnäden wider guot
mache (f. 54vb).
[5] Kant (1783,
1794/1971).
[6] Karl Jaspers (1951a,
S. 90)
schreibt: „Als 1793 Kants ‚Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft’
erschien – diese Schrift, in welcher der bei ihm neue Begriff des radikal Bösen
der Angelpunkt war -, schrieb Goethe an Herder die bekannten Worte, Kant habe
seinen ‚philosophischen Mantel freventlich mit dem Schandfleck des radikal
Bösen beschlabbert ...’. Es kann nicht verwundern, wenn aus derselben Gesinnung
Schiller Kants Annahme eines Hanges zum radikal Bösen ‚empörend’ nannte”.
[7] Petrus Lombardus (1971, dist. 17); Wéber (1986).
[8] Colmar, Bibliothèque de la ville, Ms 1945, f.
43rb.
[9] ebd. 23vb.