Der Traktat 'Von der Minne'

Einführung

Aus:

*     KARL HEINZ WITTE, Der 'Traktat von der Minne', der Meister des Lehrgesprächs und Johannes Hiltalingen von Basel. Ein Beitrag zur Geschichte der Meister-Eckhart-Rezeption in der Augustinerschule des 14. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 131 (2002) 454-487

 

Kurt Ruh hat dieses kleine spärlich überlieferte und in der Forschung fast mit Schweigen übergangene Beispiel einer "mündig gewordenen Scholastik" 1987 durch eine kommentierte kritische Ausgabe und einige Artikel wieder in den Blick der germanistischen Mystikforschung gerückt. Dadurch ist es möglich geworden, den spekulativen und historischen Wert dieser Perle scholastischer (d. h. hier Hochschul-) Theologie in mittelhochdeutscher Sprache zu erfassen. Dass eine neue Würdigung weitere, über seine Erkenntnisse hinausgehende Einblicke in die fachliterarische und theologiehistorische Diskussion der Eckhartthesen im 14. Jahrhundert ermöglicht, dürfte Kurt Ruh selbst am meisten freuen. Allgemein betrachtet, soll der hier neu vorgelegte Kommentar erhärten, dass die theologische Auseinandersetzung mit Eckhart nach dessen Verurteilung auf höchstem Niveau weitergeführt wurde. Weiterhin lässt sich meine schon anderswo vorgebrachte These verdeutlichen, dass an der Diskussion über Meister Eckhart die Augustinereremiten einen bisher unterschätzten Anteil hatten. Speziell rückt der Augustinermagister Johannes Hiltalingen von Basel (ca. 1322 - 1392) damit neu und gewichtig in den Blick. Von ihm ist in der Eckhart-Forschung bislang nur bekannt, dass er aus einem Avignoner Prozessgutachten des Kardinals Founier gegen Eckhart zitiert.

Der ‚Traktat von der Minne’ hat die Form einer scholastischen quaestio disputata über die Bedeutung des Schriftwortes: „Gott ist die Liebe“ (1 Jo 4, 16), das hier den Charakter einer These gewinnt. Ausgangspunkt der Erörterung ist die übliche Lehrmeinung: Die meister sprechen gemeinclinen, das mynne sey ein geschaffen forme oder ein ingeczogen tugent (2f). Die Liebe ist in dieser allgemeinen Auffassung ein Habitus, das heißt eine menschlich-natürliche Bereitschaft; man würde heute vielleicht von charakterlicher Disposition oder von einer Einstellung sprechen. Dieser Habitus ist freilich „eingegossen“ (infusus), d. h. er hat seinen übernatürlichen Ursprung in der Gnadengabe Gottes.

Diese zumindest in der Hochscholastik allgemein akzeptierte ontologisch-metaphysische Wesensbestimmung der Liebe steht in einem Spannungsverhältnis zu einer älteren Konzeption der Liebe, welche mehr die Dynamik der Liebeskraft als deren ontologischen Status im Auge hatte. Es handelt sich um die berühmte Formulierung des Petrus Lombardus, der sich auf Augustinus-Zitate beruft: quod ipse idem Spiritus Sanctus est amor sive caritas qua nos diligimus Deum et proximum (dist. 17, hier zit. nach Dionysius Cart. I Sent. 1 (verba magistri); Bd. 20, S. 1). Da diese Sentenz im Grundlehrbuch der mittelalterlichen Theologie vertreten wurde, musste jeder bestallte Lehrer dazu Stellung nehmen. Darum ist wahr, was der Autor des Minnetraktats sagt, dass die These: das er [der Habitus] nicht ensey ein geschaffen form, mer der heilig geist selber (25f), von den Meistern viel diskutiert (gesprochen) wurde (Z. 25). Der Traktat fährt aber fort, kein Meister habe diese These offen verteidigt: Das enhat chein meister offenwar gesprochen (Z. 26f). Auch das ist wahr. Denn der These: das nicht allein ein habitus der mynne ist vngeschaffen, mer auch das werk der minne ist der heylig geist selber (28f), wurde in der Theologie des 13. Jahrhunderts durchwegs widersprochen, ja in einem Katalog der theologischen Fakultät der Universität Paris findet sich diese Identifikation an der Spitze der abzulehnenden Thesen des Lombarden. Noch Dionysius der Karthäuser (1402 – 1471), der wie immer über die jeweiligen Standpunkte der Theologen gut informiert ist, zensiert diese These und somit auch diejenige des Autors des Minnetraktats: In contrarium est communis doctrina doctorum. Zum Beleg zitiert er die Stellungnahmen von Thomas von Aquin, Petrus de Tarantasia, Richardus de Mediavilla, Bonaventura, Albertus Magnus und Duns Scotus, alle in Ablehnung der These. Als einzige rechtfertigende Begründung der These führt er eine Argumentation des Aegidius Romanus, des Schulhauptes der Augustiner-Eremiten, an, welcher den Lombarden freilich nur vor den wichtigsten Gegenargumenten (v. a. des Thomas von Aquin) in Schutz nimmt, die Meinung des Magisters jedoch für sich selbst auch nicht akzeptiert.

Auf diesem Hintergrund erscheint der ‚Traktat von der Minne’ als eine Besonderheit. Seine theologiegeschichtliche Position lässt sich nur bestimmen, wenn man die vergleichbaren Lehrmeinungen der (repräsentativen) Theologen des 14. Jahrhunderts heranzieht. In einer redaktionellen Korrekturnote schreibt Ruh: „Das augustinische Element der Schrift müsste stärker hervorgehoben werden, auch wenn es zumeist durch Thomas vermittelt erscheint.“ Dem ersten Teil dieses Satzes ist zuzustimmen. Jedoch steht der Traktat in einem Spannungsverhältnis zu Thomas von Aquin, und das ist das historisch Aufregende dieser Schrift. Ich komme zu einer schärferen Akzentuierung des augustinischen Lehrgehalts: Die ausdrückliche Berufung des Autors auf Augustinus, vnd ich sprich mit sant Augustin (28), erklärt eine Schulposition. Der Autor ist (auch institutionell) Augustiner. Das allein wäre schon bemerkenswert genug, wenn es sich erweisen lässt. Zudem entwirft der Autor eine theologisch sachkundige und eigenständige, keineswegs nur auf die orthodoxe Gemeindoktrin reduzierte Eckhart-Interpretation, und zwar gerade im Hinblick auf die metaphysisch-theologische Zentralthese Eckharts, esse est deus, die im Prozess inkriminiert wurde. Durch diese Kennzeichnungen gewinnt dieses kleine Prosastück einen herausgehobenen Rang in der spekulativen deutschsprachigen Scholastik des 14. Jahrhunderts.

Die theologische Besonderheit und die Identität des Autors

An die Stelle des metaphysischen Hauptsatzes Meister Eckharts: esse est deus, setzt der Meister des Minnetraktats seinen theologischen Hauptsatz: die myn ist got selber (161). So präzisiert, wird erkennbar, welcher außergewöhnliche Anspruch mit diesem Traktat angemeldet wird. Wer, wenn nicht ein legitimierter theologischer Magister dürfte sich eine solche Herausforderung der Theologenzunft zutrauen? Und ist ein Autor, der mittelhochdeutsch, also, wie man gewöhnlich meint, für ein Laienpublikum schreibt, einem solchen selbst gesetzten Anspruch gewachsen?

Beide Fragen lassen sich mit Ja beantworten, wenn Johannes Hiltalingen von Basel als Autor in Betracht kommt.

Auf Grund dieser Vorüberlegungen stelle ich die folgende These auf: Die Hauptgedanken des 'Traktats von der Minne' sind so individuell signifikant, dass aus ihnen auf die Identität des Autors geschlossen werden kann. Diese Thesen finden sich ebenso signifikant beim Meister des Lehrgesprächs wieder wie auch beim Augustinermagister Johannes Hiltalingen von Basel. Dieser ist der Autor des 'Traktats von der Minne' wie auch der Schriften des Meisters des Lehrgesprächs, und zwar als auctor, d. h. entweder unmittelbar als Verfasser - oder mittelbar als Urheber; der oder die deutsch schreibenden Verfasser stünden dann in engster Nähe zum lateinisch schreibenden Magister als Quelle.

 

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[1] K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, München 1990 - 1999, Bd. 3, S. 362 – 366.; 2VL 6, Sp. 544 – 548.

[2] Vgl. L. Sturlese, Meister Eckharts Weiterwirken: Versuch einer Bilanz, in: Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus: Nachweise und Berichte zum Prozess gegen Meister Eckhart, hg. von H. Stirnimann u. R. Imbach (Dokimion 11), Freiburg/Schweiz 1992, 169 - 183.; N. Largier, Recent work on Meister Eckhart. Recheches de Théologie et Philosophie médievals 65 (1998) 145 -167, hier S. 258 - 160..

[3] K. H. Witte, Der Meister des Lehrgesprächs und sein In-principio-Dialog. Ein deutschsprachiger Theologe der Augustinerschule des 14. Jahrhunderts aus dem Kreise deutscher Mystik und Scholastik. Edition und Kommentar (MTU 95), München u. Zürich 1989.

[4] H. Haupt, Hiltalinger, Johannes H., Bischof von Lombès, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 50, Leipzig 1905, 341 - 342.; A. Kunzelmann, Geschichte der deutschen Augustiner-Eremiten. Zweiter Teil: Die rheinisch-schwäbische Provinz bis zum Ende des Mittelalters (Cassiciacum 26), Würzburg 1970, S. 206 – 213.

[5] J. Koch, Kritische Studien zum Leben Meister Eckharts, in: Kleine Schriften (Storia e letteratura 128), Rom 1973, 247 - 347.

J. Koch, Der Kardinal Fournier (Benedikt XII.) als Gutachter in theologischen Prozessen, in: Kleine Schriften. Bd. 2 (Storia e letteratura 128), Rom 1973, 367-386.