Aus: Verfasserlexikon Bd. 10, S.Sp- 531 - 537
Karl Heinz Witte
'Vorsmak des êwigen lebennes'
Theologischer Komposittraktat in Quaestionenform, dt.
1. Überlieferung. Heidelberg, cpg 641, 1r
- 63 r; Berlin, mgq 1132, 122r - 164r (nachgeordnet,
aber nicht direkt abhängig) entspricht f. 1r - 26r von
cpg 641. Beide Handschriften sind alemannischen Ursprungs, der Heidelberger
Text bewahrt Dialektspuren aus mittelfränkischem Sprachbereich.
2. Ausgaben. F.
Pfeiffer, Predigten und Traktate deutscher Mystiker II, ZfdA 8 (1851)
442 - 452 (Pf.); F. J. Mone, Philosophischer Beweis der Dreieinigkeit,
Anzeiger f. Kunde d. dt. Vorzeit 8 (1839) 85 - 92 (M); E. Hillenbrand, 1968, S. 135 - 167 (H.; s. u.).
Die drei
Teilausgaben summieren sich zu einer Gesamtausgabe des Heidelberger Textes:
Pf.: 1r - 14r; M.: 14r - 21r; H.:
21v - 36v; Pf.: 36v - 45r; H.: 45v
- 63r.
2. Die bisher unveröffentlichte Berliner Parallelüberlieferung scheint den bisher bekannten Textbestand des 'V.' zu erweitern. Dem Textanfang (Pf. 423 - 437 = Traktat I) gehen in der Berliner Hs. 7 Abschnitte voraus, die formal (Vorlesungsgliederung) und thematisch mit dem 'V.' verknüpft sind: Vernunft und Liebe in der Seligkeit (f. 104r - 108v); Gottesbeweis aus der unverursachten Ursache und dem unbewegten Beweger (f. 108v - 110r); die aktive oder passive Möglichkeit in Gott (f. 110r - 111v); das Wesen als gegenwurf des Erkennens, die Güte als gegenwurf des Willens (f. 111v - 113v); Weisheit (Wort) und Liebe als Hervorgänge in Gott; die Personen im Verhältnis zum Wesen Gottes (f. 113v - 118r); die Erschaffung der Dinge im Wort Gottes (f.118r - 120r); das Mittelwesen zwischen Gott und den Dingen; die Begründung der Menschwerdung Gottes (f. 120r - 122r).
Die Ausführungen sind mit dem bisher bekannten 'V.'-Text durch eine gliedernde Vorankündigung verknüpft. Sie ist am Ende des ersten Abschnittes eingeschoben, in dem die form- und namenlose Vereinigung in der Erkenntnis und Liebe mit dem ewigen Wort dargestellt wird: In dirre ere so sin saelig vnd erlich alle die in himelrich sint. [...] Vnd ôch in dem selben söllent wir in der ewigen saelikait gebruchen. Darumbe ist kurtzlich in disem buoch ze sagene: 1. von dis wortes ewiges gebruch vnd von der driualtikait zemâle; 2. darnach, wie aellú ding wesen enpfangen he[n]t in disem wort; 3. darnach von des wortes [wegen del.?] zitlicher geburt vnd von den dingen die von Christo ze sagene sint; 4. ze júngst von saelikait, wor an der bestande vnd wer die sint, die der gebruchen [Hs. gebruchung] súlent. (f. 108rf.) Diese Vorankündigung wird nur eingelöst, wenn man den ganzen 'V.'-Traktat, über das Berliner Bruchstück hinaus, einbezieht.
3. Die Zusammengehörigkeit der Traktate in Quaestionenform erweist sich für die zweite Hälfte der Textteile durch Querverweise, für die erste thematisch weit auseinanderliegende Hälfte durch die Berliner Parallelüberlieferung. Es handelt sich um ein Beispiel der Gattung des von Ruh (1991) so benannten Komposittraktats, der in diesem Fall zudem deutliche Spuren der scholastischen Vorlesungsstruktur aufweist [vgl. z B. à 'Von der Minne II' und à ' Sant Johannes sprichet ...'). Die kompositorische Verklammerung ist in der Zielsetzung zu sehen: das ir einen vorsmak hier gewinnet des êwigen lebennes der êwigen sêlikeit. Diese ist selige Gottesschau in Ewigkeit. Darum stellen diese Vorlesungen als vorsmak die theologischen Materialien der Gotteslehre, der Theorie der Erkenntnis und Liebe, der Teilhabe an den innertrinitarischen Hervorgängen und der Zeit und Ewigkeit zusammen.
4. Der Autor dürfte ein Magister oder Lektor gewesen sein. Denn wer, wenn nicht ein Vertreter einer theologischen Ordenshochschule, hätte eine so selbstbewußte Auseinandersetzung mit Positionen der Meister verschiedener Schulen vortragen können? (Ietweder sît sint noch vil rede, mit den iewedere bewêrent iren wân, die ich nû zuo mâle niht sagen mag. Aber das sprich ich [...], Pf. 448). Er ist im Bereich der unmittelbar an à Eckhart anschließenden Diskussion seiner 'Jünger' anzusetzen, nicht lange nach Eckharts Tod. Er wird von dem Mosaiktraktat à 'Lehrsystem der deutschen Mystik' und von à Giselher von Slatheim zitiert. Der Versuch Hillenbrands (1968), den Verfasser des 'V.'s mit à Nikolaus von Straßburg zu identifizieren, ist nicht gelungen (Ruh, 1991, 404f., Anm. 10; 1996, S. 358). Eine Annäherung an eine Identifizierung könnte die genaue und viel versprechende Analyse der Lehrmeinungen des Autors bringen. Diese müßte sich auf die Subtilia in den Argumenten konzentrieren. Der Grundgehalt des Textes steht à Thomas von Aquin nahe. In der Auseinandersetzung um die Frage, ob die Seligkeit mehr in der Erkenntnis oder in der Liebe bestehe, referiert er die franziskanische sowie die dominikanische, speziell Eckhartische Lehre (Pf. 446 - 449, Auswertung bei Witte, 1968, 175 - 177). Entscheidend für die Zuordnung ist hier, daß sich der 'V.' mit seiner eigenen Position von beiden Argumentenreihen absetzt: Das Letzte als Vollendungsgestalt sei das Vollkommenste, die Liebe folge dem Verstehen, so sei sie das letzte Ziel. Die Liebe sei es auch, die die Vereinigung ganz ohne Mittel suche, während das Verstehen sich immer mit einem Bild des Erkannten begnüge (Pf. 448). Der Dominikaner Giselher von Slatheim zitiert (ein meistir sprichit, Par. an. 92, 2 u. ff.) und widerlegt (unse hohisten meistere, s. predicatores, sprechin, ebd. 92, 12) genau diese Argumente. Danach wäre der Verfasser des 'V.' nicht als Dominikaner anzusehen. Ein Franziskaner, wie Preger (1881, 159) meinte, kann er aber nicht sein. Dazu folgt er in den meisten Lehrstücken zu getreu Thomas von Aquin.
Möglicherweise war der Autor Augustinereremit. Jederfalls steht die Lehre à von Thomas von Straßburg (4 Sent. d. 49 q. 3 a.2) in auffallender Übereinstimmung mit der Sondermeinung des 'V.'-Autors, gegen die Giselher argumentiert. Die Augustinereremiten folgten in der Seins- und Gotteslehre im wesentlichen Thomas von Aquin und Aegidius Romanus, in der theologischen Einleitunglehre (Theologie ist scientia affectiva) sowie in der Gnaden- und Erlösungslehre gingen sie aber eigene Wege (Zumkeller 1964; Marcolino 1993); das könnte sich auch in manchen Positionen der deutschsprachigen Scholastik im Umkreis der Mystik niederschlagen.
5. Die geschichtliche Stellung des Traktats erschließt sich weitgehend aus der Thematik. Es handelt sich um Vorlesungen mit wissenschaftlichem (scholastischem) Niveau, die dem Kernbestand der theologischen Lehrbücher (Sentenzenkommentare) entsprechen. An wenigen Stellen handelt es sich um stichwortartige Abbreviaturen (wie sie z. B. in der à 'Blume der Schauung' [Nachtragsband] vorliegen). An manchen Stellen ist die Argumentation eher ausgedehnt, auffallend gründlich und wahrscheinlich eigenständig (vgl. Witte 1968, 190 - 197). Neben einer präzisen mhd. Gelehrtensprache, die die schwierigen spekulativen Inhalte sicher übersetzt und die selbstverständlich von der Begrifflichkeit Eckharts und seiner Nachfolger Gebrauch macht, ist ein eindringlicher persönlich meditativer Duktus erkennbar, der den Gegenstand nicht nur zu begreifen sucht, sondern von ihm auch ergriffen ist.
Literatur. W. Preger,
Geschichte der deutschen Mystik, Bd. 2, Leipzig 1881, 156 - 160; E. Hillenbrand, Nikolaus von Straßburg.
Religiöse Bewegung und dominikanische Theologie im 14. Jahrhundert (Forschungen
z. oberrhein. Landesgesch. 21) Freiburg i. Br. 1968; K. H. Witte, 'Vorsmak des êwigen lebennes'.
(Würzburger Prosastudien I) München: Fink, 1968; , K. Ruh: 'Die Blume der Schauung' (Kleine deutsche
Prosadenkmäler des Mittelalters, Heft 16. München: Fink, 1991; Rez.: Witte, ZfdA 122 (1993) 348 - 354; K. Ruh, Geschichte der abendländischen
Mystik. Bd. 3. München: Beck, 1996; A. Zumkeller,
Die Augustinerschule des Mittelalters. (Analecta Augustiniana, Bd. 27) Rom
1964, 167-262; V. Marcolino, Die
Wirkung der Theologie Hugolins von Orvieto im Spätmittelalter. (Analecta
Augustiniana, Bd. 56) Rom 1993, 7 - 124.
Karl
Heinz Witte
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